Das Selbst aus dem Selbst?

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Ein Essay für Erziehungswissenschaften in der Oberstufe

Eine der grundlegenden Fragen der Philosophie ist die nach der Selbstbestimmtheit des Menschen.

Eine der grund­le­gen­den Fra­gen der Phi­lo­so­phie — und damit der Mensch­heit – ist die Frage nach der Selbst­be­stimmt­heit des Men­schen. Wie kommt es, dass wir anschei­nend einen freien Wil­len haben und ent­schei­den kön­nen? Ist es etwa so, dass wir nur von ver­schie­de­nen Sei­ten beein­flusst und geprägt wer­den und ent­spre­chend eines inne­ren Bau­plans han­deln (bio­lo­gis­ti­scher/​Anlage-bestimm­ter Ansatz)? Oder ist es so, dass wir auf Grund von Erfah­run­gen mit unse­rer Umwelt bestimmte Mecha­nis­men gelernt haben und bei jeder »Ent­schei­dung« nur auf diese Liste von Erfah­run­gen zurück­grei­fend und die­sen ent­spre­chend han­deln (beha­vio­ris­ti­scher/​Umwelt-bestimm­ter Ansatz)? Oder spie­len beide Fak­to­ren eine Rolle (Inter­de­pen­denz)?

Doch wo ist in all dem Platz für ein Maß an Selbst­be­stim­mung, dass dem Men­schen Ent­schei­dungs­frei­heit gibt und ihn nicht nur als Mario­nette sei­ner Selbst (sei­ner Anlage und sei­ner Umwelt) daste­hen lässt? Ich jeden­falls würde mich gerne als frei han­delnde und mög­lichst unab­hän­gige Per­son betrach­ten kön­nen statt nur als mecha­nis­ti­scher Appa­rat, der — von Anlage oder von der Umwelt — beein­flusst wird und dem­nach deter­mi­nis­tisch reagiert statt selbst­stän­dig agiert.

Der Titel die­ses Essays stellt die Frage nach dem »Selbst« aus dem »Selbst«. Doch was ist das »Selbst« — und was bitte ist das »Selbst« aus die­sem »Selbst«?

»Selbst« ist ein nur schwer zu defi­nie­ren­der Begriff, der in viel­fäl­ti­ger Weise gebraucht und näher betrach­tet immer anders gemeint wird. Einem eng­li­schen Wör­ter­buch zufolge beschreibt er eine »indi­vi­du­elle Per­son[1] als Objekt ihres eige­nen reflek­tie­ren­den Bewusst­seins«[2]; doch eben die­ses »reflek­tierte Bewusst­sein« ist es, das sich weder ein­deu­tig bestim­men noch erklä­ren lässt, da es nach eben die­ser oben erwähnte Selbstbestimmt­heit fragt. Die­ses »Selbst« ent­spricht dem ers­ten im Titel genann­ten »Selbst«; das zweite »Selbst« ver­weist auf die von außen sicht­bare »Per­sön­lich­keit« als Merk­mal (bzw. Ansamm­lung von Merk­ma­len) einer Per­son.

Zur ein­fa­che­ren Betrach­tung lässt sich der Titel nun zunächst ein­mal umfor­mu­lie­ren in: »Gibt es Selbst­be­stim­mung in der Per­sön­lich­keit?«.

Auf diese Frage ver­such­ten und ver­su­chen Men­schen schon lange eine Ant­wort zu fin­den, so auch die Ver­tre­ter bekann­ter Theo­rien (vgl. oben). Stel­len wir uns die Frage nun also ein­mal gestellt an diese Theo­rien vor.

Sozio­lo­gie

Begin­nen wir mit der Sozio­lo­gie — bie­tet sie eine Ant­wort auf diese Frage?

In ihrer klas­si­schen Form geht die Sozio­lo­gie zunächst ein­mal nicht vom Men­schen an sich, son­dern von der Gesell­schaft, aus. Das Indi­vi­duum wird nur als ein Teil des grö­ße­ren Kol­lek­tivs betrach­tet. Ein sol­ches Indi­vi­duum — von Ralf Dah­ren­dorf im Jahre 1958 lie­be­voll »homo socio­lo­gi­cus« getauft — ist gänz­lich von der Gesell­schaft bestimmt und beein­flusst. Ein sol­ches Indi­vi­duum lebt nur, um in der Gesell­schaft zu funk­tio­nie­ren (vgl. Par­sons, New­comb: Struk­tur­funk­tio­na­lis­mus), doch es lebt damit auch in einer Gesell­schaft, die sich nicht ver­än­dern kann.

In einer sol­chen Theo­rie ist also die Selbst­be­stim­mung des Men­schen aus­ge­schlos­sen — er wird ja voll­stän­dig von der Gesell­schaft bestimmt.

Unter ande­rem aus einem sol­chen Grund beschreibt George Her­bert Meads Theo­rie diese Aspekte nicht von einer abs­trak­ten Gesell­schaft aus­ge­hend, son­dern sieht die Gesell­schaft in Abgren­zung dazu durch die Inter­ak­tion ein­zel­ner Hand­lungs­trä­ger geprägt an (sym­bo­li­scher Inter­ak­tio­nis­mus). Fer­ner ist das Selbst als Aus­druck der Per­sön­lich­keit (»Self«) nach Mead eine Zusam­men­set­zung der Bestand­teile »I« und »Me«. Dabei ist ers­te­res die Instanz der Per­sön­lich­keit, wel­che sich als »vor­so­zial« und »impul­siv« beschrei­ben lässt, wel­che nicht von der Gesell­schaft geprägt, son­dern — vor­sich­tig aus­ge­drückt — zur bio­lo­gi­schen Grund­aus­stat­tung des Men­schen gehört. Das »Me« dage­gen ist jene Instanz, wel­che reflek­tiert das Ver­hal­ten von sich und ande­ren betrach­tet, gesell­schaft­li­ches Han­deln bewirkt und Pflich­ten zu erfül­len ver­sucht. Per­sön­lich­keit — unser »zwei­tes« Selbst — ist dem­nach eine Art sich stän­dig ändern­der Zustand, also ein Pro­zess, der aus dem Zusam­men­spiel von »I« und »Me« ent­steht.

Der Fak­tor der Selbst­be­stim­mung — unsere Ursprungs­frage — wird von Mead wohl am ehes­ten im impul­si­ven »I« beschrie­ben. Die­ses »I« ist jedoch für ihn eine unbe­stimm­bare und unbe­re­chen­bare Größe, die einem fast wie eine Black­box vor­kommt. Eine nicht allzu befrie­di­gende Ant­wort auf die Frage nach dem Eige­nen der Per­sön­lich­keit — aber defi­ni­tiv an Zuge­ständ­nis an ihre Kom­ple­xi­tät.

Bio­lo­gie

Für einen radi­ka­len Bio­lo­gen ist ein sol­ches Modell vom impul­si­ven »I« Anreiz genug, der Sache mit dem Mikro­skop ein­mal auf den Grund zu gehen — schließ­lich ist der Mensch ja doch nur eine Ansamm­lung von Zel­len. Beson­ders in der heu­ti­gen Neu­ro­bio­lo­gie ist es ein belieb­ter Ansatz, zu tes­ten, wel­che Hirn­ströme wel­ches Ver­hal­ten bestim­men. Ver­folgt man die­sen Gedan­ken ein wenig wei­ter, so kommt man zu dem Schluss, dass die Ent­wick­lung des Gehirns durch die Erb­an­la­gen bestimmt ist — und damit die poten­ti­elle Per­sön­lich­keit eines Men­schen auch in die­ses ent­hal­ten ist.

Natür­lich ist es schwer zu begrün­den, dass die Bedie­nung eines Com­pu­ters, der zur Zeit der Geburt des Men­schen noch nicht erfun­den war, in der Anlage die­ses Men­schen vor­ge­ge­ben ist. Doch das ist auch nicht nötig, denn sieht man diese Anlage als eine Art »Bau­plan«, so ist es ein­leuch­tend, dass die­ser Bau­plan doch in gewis­sem Maße von Umwelt beein­flusst wer­den kann; somit wird durch die Umwelt nur bestimmt, was sich wann ent­wi­ckelt, aber nicht, wie es sich ent­wi­ckelt (Prä­gung, vgl. Lor­entz).

Diese Theo­rien füh­ren im End­ef­fekt jedoch alle zu ein und dem­sel­ben Ergeb­nis — alle Per­sön­lich­keits­merk­male wer­den aus­schließ­lich phy­sio­lo­gisch betrach­tet und begrün­det. Dem­nach ist mensch­li­ches Ver­hal­ten mecha­nis­tisch und letzt­end­lich deter­mi­niert — für Selbst­be­stim­mung ist in der DNA kein Platz.

Psy­cho­ana­lyse

Doch fah­ren wir fort und stel­len die Frage nach dem Urei­ge­nen der Per­sön­lich­keit einem Psy­cho­lo­gen, genauer einem Psy­cho­ana­ly­ti­ker, der in etwa das Struk­tur­mo­dell der Psy­che nach Freud ver­tritt.

So ist diese Wis­sen­schaft dadurch bekannt gewor­den, dass sie dem Men­schen zunächst ein­mal ein exklu­si­ves Bewusst­sein abspricht und ihm auf­zeigt, dass seine Psy­che auch unbe­wusste Teile ent­hält, von denen die jewei­lige Per­son per se keine Kennt­nis hat. Nach Freuds Struk­tur­mo­dell der Psy­che ist es das »Ich«, wel­ches wir als Per­sön­lich­keit bezeich­nen; die­ses ist jedoch »nicht Herr im Haus« (der Psy­che), son­dern muss durch seine Fähig­keit, die Rea­li­tät ein­ord­nen zu kön­nen, zwi­schen den Trie­ben des »Es« und den Ansprü­chen der Gesell­schaft/​Moral (»Über-Ich«) stän­dig neue Kom­pro­misse fin­den, um Hand­lun­gen aus­füh­ren zu kön­nen.

Bevor wir also unsere Leit­frage an die­ses Modell stel­len kön­nen, müs­sen wir zunächst ein­mal fest­le­gen, wie es um die Selbst­be­stim­mung in den ein­zel­nen Tei­len der Psy­che steht. Das »Es« ver­kör­pert die evo­lu­tio­nä­ren/​bio­lo­gi­schen Triebe »Libido« und »Destrudo« und agiert bevor­zugt unbe­wusst — dem­nach lässt sich sagen, es ist defi­ni­tiv kein selbst­be­stimm­ter Fak­tor der Psy­che. Das »Über-Ich« beinhal­tet die von der Gesell­schaft (vor allem durch Erzie­hung) ver­in­ner­lich­ten Werte und Moral­vor­stel­lun­gen — auch keine selbst­be­stim­mende Instanz.

Allein das »Ich« könnte also das »Eigene« der Per­sön­lich­keit aus­ma­chen. Die­ses Ich ist auch der Punkt in wei­ter­ent­wi­ckel­ten psy­cho­ana­ly­ti­schen Theo­rien, wo das Selbst­bild eines Men­schen ent­hal­ten ist. Das alles ist jedoch nach wie vor nichts wei­ter als die Beschrei­bung einer Instanz, wel­che nur durch die bei­den fremd­be­stimm­ten Fak­to­ren der Triebe und der gesell­schaft­lich-ange­pass­ten Vor­stel­lun­gen ver­mit­telt — wodurch sie letzt­end­lich nicht selbst­be­stimmt sein kann.

Fazit

Es mag ver­blüf­fend klin­gen, aber jede der hier betrach­te­ten Theo­rien sieht kon­se­quent durch­dacht keine defi­ni­tive Selbst­be­stim­mung — kei­nen freien Wil­len — des Men­schen vor. Wo sonst ein mög­li­cher drit­ter Fak­tor (neben Anlage und Umwelt) aus­ge­schlos­sen wird und wo selbst moder­nere Theo­rie, wie die Hur­rel­manns, nur eine Auto­no­mie des Men­schen[3] pos­tu­lie­ren kön­nen, ver­fügt das Modell Meads jedoch mit dem »impul­sive I« zumin­dest über die Mög­lich­keit, den »freien« Wil­len des Men­schens in einer Weise zu ret­ten.

Das »I« ist nach Mead unter ande­rem näm­lich ein Fak­tor, der spon­tan und unbe­stimmt ist. Damit ist diese »freie« Instanz der Per­sön­lich­keit eben nicht der bewusste und reflek­tie­rende, son­dern der — ver­mut­lich über­trie­ben aus­ge­drückt — zufäl­lig agie­rende Teil der Per­sön­lich­keit.

Phi­lo­so­phisch betrach­tet ist dies höchst inter­es­sant. Dort gibt es vor­herr­schend vier Mög­lich­kei­ten bezüg­lich der Frage nach Deter­mi­nis­mus, bei denen jeweils die Wirk­lich­keit deter­mi­nis­tisch ist und/​oder Wil­lens­frei­heit nur eine Illu­sion. Wie sieht es jedoch mit einer »Wil­lens­frei­heit« durch Zufall aus? Ist »Wil­lens­frei­heit« viel­leicht nur durch den Fak­tor des Zufalls zu begrün­den?

Bis­her konnte auf diese Fra­gen in der Phi­lo­so­phie keine Ant­wort gefun­den wer­den und es ist höchst frag­wür­dig, ob das jemals der Fall sein wird.

Als Aus­blick ist jedoch noch hin­zu­zu­fü­gen, dass der Zufalls-Fak­tor in der Phy­sik — beson­ders der Quan­ten­me­cha­nik — für umfang­rei­che Inter­pre­ta­tio­nen gesorgt hat. So wird von vie­len (z.B. Bohr und Hei­sen­berg) gesagt, dass die nur zufäl­li­gen mög­li­chen Vor­aus­sa­gen der Quan­ten­me­cha­nik (und Ther­mo­dy­na­mik) Beweis dafür sind, dass die Welt eine nicht deter­mi­nis­ti­sche ist[4]. Jedoch war und ist dies auch als Mög­lich­keit auf­ge­fasst, dass wir nicht nur in einer Raum­zeit leben, son­dern ver­schie­dene schein­bar zufäl­lige Ereig­nisse oder gar freie Ent­schei­dun­gen tat­säch­lich nur eine Dimen­sion der Wahr­schein­lich­keit defi­niert[5].


  1. eine Per­son muss inter­es­san­ter Weise nicht ein­mal unbe­dingt ein Mensch sein; so kön­nen z.B. auch Haus­tiere (oder jeg­li­che andere Form von Intel­li­genz — vgl. phi­lo­so­phi­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen in ver­schie­de­nen »Star Trek«-Serien bezüg­lich Andro­iden und Holo­gram­men), die einen bestimm­ten Ein­fluss durch ihr Ver­hal­ten auf ihre Umwelt haben, als Per­so­nen betrach­tet wer­den.

  2. vgl. Wik­tio­nary: Self

  3. trotz der Basis zweier fremd­be­stimm­ter Fak­to­ren (hier: innere/​äußere Rea­li­tät, bzw. Anlage/​Umwelt).

  4. vgl. Wiki­pe­dia: Kopen­ha­ge­ner Inter­pre­ta­tion

  5. vgl. »Viele-Wel­ten-Theo­rie« oder auch »Per Anhal­ter durch die Gala­xis« von Dou­glas Adams